Die Freude des begnadigten Verbrechers
(in: Süddeutsche Zeitung Nr. 47 v. 26. Februar 2009, S. 14.)
(Süddeutsche Zeitung, 2009/2/26)
CHRISTOPH BARTMANN
Dr. Christoph Bartmann (*1955, Germany) has been director of the “Knowledge and Society” department at the Munich headquarters of the Goethe Institute since 2006. He studied German and history in Düsseldorf and Vienna. He was then a DAAD (German Academic Exchange Service) lecturer in Lisbon. Since 1988 he has been with the Goethe Institute with foreign postings in Santiago de Chile, Prague and Copenhagen. He also works a literary critic and commentator, initially for the Frankfurter Allgemeine Zeitung, and now for the Süddeutsche Zeitung.
Montaignes Weisheit im China der späten dreißiger Jahre: Qian Zhongshus Roman „Die umzingelte Festung”
Qian Zhongshus Roman „Die umzingelte Festung”, eines der großen Bücher der chinesischen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, erschien 1946 als Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift, 1947 in Shanghai als Buch und wurde dann drei Jahrzehnte wegen seiner nachteiligen Wirkung auf die chinesische Jugend nicht nachgedruckt. 1980 begann dann das zweite Leben dieses Romans. Der „Verlag für Volksliteratur” brachte die „Umzingelte Festung” mit großem Erfolg neu heraus, Übersetzungen in alle großen Sprachen folgten (die deutsche Übersetzung erschien 1988), und Qian Zhongshu, der Dichter, Essayist und berühmteste Literaturhistoriker seines Landes, zählte zu den Kandidaten für den Nobelpreis.
1998 ist Qian in hohem Alter in Peking gestorben, eine literarische Institution, die trotz oder wegen ihres Ruhms die Öffentlichkeit scheute. In einem Telefongespräch, so berichtet die Übersetzerin Monika Motsch in ihrem Nachwort, habe Qian einer englischen Wissenschaftlerin von einem Besuch bei ihm mit der Begründung abgeraten, „wenn einem ein Ei geschmeckt habe, müsse man nicht unbedingt die Henne besuchen”.
Die titelgebende Metapher geht zurück auf Montaigne („forteresse assiégée”), ist aber schon als arabisches Sprichwort und wahrscheinlich auch anderenorts überliefert. Die Ehe, so die gemeinsame Erkenntnis der Weltkulturen, ist eine umzingelte Festung: „Die Belagerer wollen hinein, die Eingeschlossenen ausbrechen.” Dieses zeitlose Tragikomödien-Grundmuster erfährt bei Qian Zhongshu eine Zuspitzung auf die chinesischen Verhältnisse des Jahres 1937, in dem China infolge der japanischen Okkupation und innerer Unruhen auch politisch eine umzingelte Festung ist.
Man hat dem Autor später vorgeworfen, sein Roman schildere die politischen Verhältnisse mit sträflicher Nonchalance; er festige nicht die Moral der chinesischen Jugend im Kampf gegen den Aggressor. Eben dies macht die „Umzingelte Festung” heute lesenswert. Ferner von politischer, gesellschaftskritischer oder auch nur interkultureller Erbauung kann man sich eine literarische Position nicht denken. Die Figuren, denen wir in Qian Zhongshus Eheanbahnungs- und Campus-Roman begegnen, sind satirische Charaktere: faul, charmant, hinterhältig, dumm, böse, witzig. „In meinem Buch”, schreibt Qian in seiner Vorbemerkung, „wollte ich gewisse Gesellschaftskreise und Menschentypen im heutigen China beschreiben. Dabei habe ich nicht vergessen, dass sie eben nur zum Typus Mensch gehören, das heißt die Urinstinkte von ungefiederten zweibeinigen Tieren haben.”
Heimkehr mit gekauftem Titel
Als junger Mann war Qian zum Studium nach Europa gegangen. Mit einem Stipendium erwarb er in Oxford einen akademischen Grad und lebte danach mit seiner Frau, einer Romanistin, in Paris, ehe er nach China zurückkehrte, um dort Anglistik zu lehren. Eben um diese Themen – das Auslandsstudium, die Ehe und die Rückkehr an eine chinesische Universität – geht es in der „Umzingelten Festung”. Auf dem Schiff nach Hause begegnen wir, im Kreise anderer akademischer Heimkehrer(innen), Fang Hongjian, der, anders als sein Erfinder, die Zeit in England, Frankreich und Deutschland, vor allem zum Bummeln und Wichtigtun genutzt hat. Außer einem gekauften Titel einer fiktiven Universität ist bei seinem Unternehmungen nichts Zählbares herausgesprungen.
Aber das ficht Fang, diesen herrlich nichtsnutzigen, aber niemals auf den Mund gefallenen Helden nicht an; ihn interessieren ohnehin nur die Damen an Bord, namentlich Fräulein Su und Fräulein Bao. Eigentlich steht er, Fang, selbst schon mit einem Bein in der umzingelten Festung. Daheim hatte er nämlich einer Tochter aus befreundetem Hause die Ehe versprochen, aber dann erreicht ihn ein Brief eines Vaters mit der Nachricht, die Braut sei an Typhus verstorben. „Fang Hongjian las den Brief mit der Freude eines begnadigten Verbrechers”, heißt es.
Aber auch die plötzliche Freiheit macht ihn nicht froh. In Berlin hat Fang Hongjian die Vorlesungen des berühmten Eduard Spranger über den „Eros” gehört und dabei begriffen, dass „Liebe und Sex zwei ungleiche Zwillinge sind”. Nun soll er in China nach alter Väter Sitte heiraten beziehungsweise verheiratet werden. Von dieser Art kognitiver und vor allem emotionaler Dissonanz handelt Qians Roman durchgehend, und weil es zwischen diesen Lebensordnungen keine Vermittlung gibt und geben kann, bleibt nur die Satire.
Die Handlung dieses immerhin 540 Seiten starken Romans ist überschaubar. Fang Hongjian kehrt nach China zurück, setzt sein Techtelmechtel mit Fräulein Su fort, verliebt sich dann aber ebenso erfolglos in deren Cousine Fräulein Tang und wird dann auf eine Professur (oder eher eine Assistenzprofessur oder eher ein Lektorat) für Logik (ein Fach, das ihm neu ist) an eine neu gegründete Universität im Landesinnern berufen. Auf der Reise dorthin lernt Fang Fräulein Sun kennen, die ebenfalls zur Dozentin berufen wurde, und nach langen Wirren und Intrigen, erotischer wie auch akademischer Natur, treffen wir Fang und seine Ehefrau Sun am Ende in Shanghai an, wo sich Fang wieder mal um eine Arbeitsstelle bemüht (die Universität im Landesinnern hat ihn gefeuert).
Für die Ehe der beiden darf gelten, was Montaignes Sentenz sagt: ist man drinnen, möchte man wieder raus. Aber weil das nicht so einfach ist, arrangiert man sich und entdeckt die Vorzüge der Festungshaft. Für Fang stellt sich das so dar: „Während, ganz abgesehen von Eltern und Brüdern, sogar Freunde die Beziehungen abbrechen und Bedienstete streiken, gleicht die eigene Frau dem großen Windsack in Homers Epos, der alle Stürme in sich aufnimmt – denn eine Scheidung ist nicht leicht.”
Der große Windsack: Qians Roman ist voll von witzigen und exquisiten Metaphern, die er aus seiner stupenden Kenntnis der Weltliteratur schöpft, wie überhaupt die „Umzingelte Festung” ein großes Dokument literarischer Weltklugheit ist, das auf den heutigen Leser taufrisch wirkt wie am ersten Tag.
QIAN ZHONGSHU: Die umzingelte Festung. Roman. Aus dem Chinesischen von Monika Motsch und Jerome Shih. Mit einem Nachwort und Erläuterungen von Monika Motsch. Schirmer Graf Verlag, München 2008. 542 S., 25, 80 Euro. |